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Theodor Hertzka:

Freiland - ein soziales Zukunftsbild

Leipzig, 1890

Portrait Hertzka

Das Buch Freiland des Österreichichen Nationalökonomen Theodor Hertzka steht am Beginn eines heute "natürliche Wirtschaftsordnung" genannten Wirtschaftsmodells. Die Ideen des Buches fanden eine große Resonanz. Es kam zur Bildung von "Freiland-Vereinen" in Deutschland und Österreich und bereits 1894 zu einem Verwirklichungsversuch im heutigen Kenia, dessen Scheitern im Vorwort zur zehnten Auflage ausgewertet wird. Auch die Brüder Lilienthal waren Anhänger der Ideen von Hertzka, wie der "Freilandweg" in Gustav Lilienthals Siedlungsprojekt "Freie Scholle" und die in Otto Lilienthals Fabrik eingeführte "Gewinnbeteiligung" bezeugen.

Die Finanzkrise 2009 hat jüngst besonders dem finanzpolitischen Teil (Freigeld) zu neuer Beachtung verholfen.

 

Im Folgenden sind Auszüge aus dem Buch wiedergegeben.

zitiert nach: zehnte durchgesehene Auflage - Mit einem Vorwort zur Freiland-Expedition, Dresden, Leipzig und Wien E. Pierson's Verlag, 1896. (die Rechtschreibung wurde nicht angepasst und entspricht der gedruckten Fassung)

[S. VII]

Vorwort zur ersten Auflage.

Die wirtschaftliche und soziale Ordnung der modernen Welt schließt ein unheimliches Rätsel in sich, über welches nur satte Gedankenlosigkeit ohne tiefinneres Grauen hinweggleiten kann. Wir haben es in Künsten und Wissenschaften "so herrlich weit gebracht", daß die unbegrenzte Kraft der Elemente uns dienstbar geworden; die gebändigten Naturmächte harren des Winkes der Menschenhand, um bereitwillig jegliche grobe, lästige Arbeit zu übernehmen und alle Bedürfnisse des Herrenvolkes dieser Erde, des Menschen nämlich, dem Boden abzuringen, zu veredeln und zum Genusse fertig zu stellen; unerschöpflicher Überschuß bei mäßiger Arbeit für jeden vom Weibe geborenen sollte die selbstverständliche Folge sein - und siehe da, alle diese glorreichen Errungenschaften haben - wie Stuart Mill treffend sagt - auch nicht eines Menschen Plage zu vermindern vermocht, und was mehr ist, gerade die stetig wachsende Leichtigkeit der Erzeugung von Überfluß hat sich zum Fluche für zahllose Menschen gestaltet, die Mangel am Notwendigsten leiden, weil es keine Verwendung für die vielen guten und nützlichen Dinge gäbe, welche sie zu erzeugen vermöchten. Das ganze wirtschaftliche Treiben der Gegenwart ist ein ununterbrochenes, verworrenes Ankämpfen gegen die verschiedenen Symptome dieses unter dem Namen der "Überproduktion" bekannten, schrecklichen Übels; Schuttzölle, Kartelle und Trusts, Zunftbestrebungen und Strikes, sie sind insgesamt nichts anderes, als verzweifelter Widerstand der unterschiedlichen an der Güterproduktion beteiligten Klassen gegen die unerbittlichen Folgewirkungen der scheinbar so absurden, deshalb aber nicht minder realen Erscheinung, daß wachsende Leichtigkeit in der Erzeugung von Reichtümern Ruin und Elend in Gefolge hat.

Daß aber die Wissenschaft diesem Rätsel ratlos gegenübersteht,

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daß noch immer kein erhellender Lichtstahl in das Dunkel dieses - des sozialen - Problems gefallen ist, trotzdem die edelsten und besten Geister der Gegenwart sich um dasselbe bemühen, liegt zum Teil daran, daß die Lösung in einer ganz falschen Richtung gesucht wurde.

Sehen wir z. B. was Stuart Mill über diesen Gegenstand sagt: "Ich blicke vorwärts ... in ein zukünftiges Zeitalter, dessen Anschauungen (und Einrichtungen) so fest gegründet auf Vernunft und die wahren Anforderungen des Lebens sein würden, daß sie niemals wider gleich allen früheren und gegenwärtigen religiösen, ethischen und politischen Meinungen umgestoßen und durch andere ersetzt werden könnten" (Autobiographie Seite 166).

Noch deutlicher spricht sich im selben Sinne Laveleye am Schlusse seines Buches "De la propriete" aus: "Es gibt eine Ordnung der menschlichen Dinge, welche die beste ist ..... Gott kennt sie und will sie. Der Mensch muß sie entdecken und einführen."

Eine absolut beste ewige Ordnung ist es also, auf welche beide warten - obwohl sie, wenn man genauer zusieht, eigentlich beide wissen sollten, daß sie damit Unmögliches erstreben. Denn Mill hat wenige Zeilen, bevor er jenen merkwürdigen Satz schrieb, selber hervorgehoben, daß alle menschlichen Dinge in steter Umwandlung begriffen waren, er stützt gerade auf diese Erkenntnis die Zuversicht, daß auch die gegenwärtig geltenden Einrichtungen bloß vorübergehende sein könnten und er müßte sich also bei ruhigem Nachdenken sagen, daß dies ganz offenbar auch in Zukunft so bleiben, daß es folglich immerwährend dauernde menschliche Einrichtungen niemals geben werde.

[...]

Und so ist es in der That. Die Lösung des sozialen Problems darf nicht in der Auffindung einer absolut guten, sondern in der einer bloß relativ besten, d. h. einer solchen Ordnung der menschlichen Einrichtungen gesucht werden, die den jeweiligen Existenzbedingungen der Menschheit am besten entspricht; und die geltenden sozialen Satzungen

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sind nicht etwa schon dann verbesserungsbedürftig, wenn sie unserer Sehnsucht nach einem absolut guten Zustande widersprechen, sondern erst dann, wenn deutlich gezeigt werden kann, daß es möglich ist, sie durch andere zu ersetzen, die den derzeitigen Existenzbedingungen der Menschheit besser entsprechen als sie.

[...]

Es ist zunächst zu untersuchen und festzustellen, welche besonderen Existenzbedingungen es waren, unter deren Walten die derzeit geltenden sozialen Satzungen sich entwickelten.

[...]

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[...]

Ich erkannte, daß der Kapitalismus zwar nicht dadurch, daß er um mit Marx zu sprechen, das "Produzieren für den Markt" hervorruft, wohl aber dadurch, daß er die konsumtive Verwendung der Ertragsüberschüsse endgiltig verhindert, die Zunahme des Reichtums abschneidet; und daß Kapitalzins zwar kein Unrecht ist, wohl aber im Zustande der wirtschaftlichen Gerechtigkeit überflüssig und gegenstandslos wird.

Die theoretische und praktische Bedeutung dieser neuen Wahrheiten halte ich für unermeßlich. Durch sie gestaltet sich nicht bloß die soziale Entwicklungstheorie zu einem in allen Teilen einheitlich und harmonisch abgeschossenen Ganzen - sie zeigen, was mehr ist, auch den Weg zu unmittelbarer praktischer Verwirklichung der von dieser Theorie formulierten Prinzipien. Wenn es möglich ist, die Produktivkapitalien von Gesamtheitswegen beizustellen, ohne damit weder das Prinzip der vollen individuellen Freiheit, noch das der Gerechtigkeit zu verletzen, wenn der Zins beseitigt werden kann, ohne daß kommunistischer Zwang an seine Stelle tritt, dann steht der Verwirklichung der freien sozialen Ordnung fernerhin kein sachliches Hindernis mehr im Wege.

Das Entzücken über diese Entdeckung raubte mir die Ruhe, die im Zuge befindlichen abstrakten Untersuchungen fortzusetzen. Vor meinem geistigen Auge bauten sich jene Gestalten auf, die der Leser in den nachfolgenden Blättern finden wird, greifbare, lebendige Bilder eines auf vollkommenster Freiheit und Gleichberechtigung begründeten Gemeinwesens [. ...]

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[...]

Und zum Schlusse noch einige Worte zur Rechtfertigung des romanhaften Beiwerks, mit welchem ich die Darstellung eines so ernsten Gegenstandes ausgestattet. Ich könnte es diesbezüglich zwar bei der Berufung auf meine berühmten Vorgänger bewenden lassen, unter denen ich Bacon, den klarsten, schärfsten und nüchternsten Denker aller Zeiten, bereits genannt habe; allein ich halte mich zu dem ausdrücklichen Eingeständnisse verpflichtet, daß mich dabei eine doppelte Absicht leitete: Erstlich hoffte ich durch möglichst lebensvolle und anschauliche Gestaltungen das Verständnis jener zum Teil höchst schwierigen Fragen, deren Lösung das eigentliche Thema des Buches ist, einem weitaus größeren Leserkreise zugänglich zu machen, als bei trockenen systematisierender Behandlungsweise zu erwarten gewesen wäre; zu zweiten wollte ich gerade durch diese konkrete Form, die ich einem Teile meiner Abstraktionen gab, der Kritik den bequemen Ausweg abschneiden, dieselben für in thesi zwar richtig, in praxi aber nichtsdestoweniger unanwendbar zu erklären. Ob mir beides gelungen ist, kann allerdings erst die Erfahrung lehren.

Wien, im Oktober 1889.

Theodor Hertzka.

 

Erstes Buch

1. Kapitel

Um die Mitte des Monats Juli des Jahres 18.. war im den angesehensten Zeitungen Europas und Amerikas folgende Ankündigung zu lesen:

"Internationale freie Gesellschaft.

Eine Anzahl von Männern aus allen Teilen der civilisierten Welt hat sich zu dem Zwecke vereinigt, einen praktischen Versuch zur Lösung des socialen Problems ins Werk zu setzen.

Diese Lösung suchen und finden dieselben in der Schaffung eines Gemeinwesens auf Grundlage vollkommenster Freiheit und wirtschaftlicher Gerechtigkeit zugleich [...]."

[...]

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[...]

Am 23. Oktober hielt der Ausschuß seine erste Sitzung in Edenthal, um über die geeignetsten Vollzugsmaßregeln zur Bildung jener freien Vergesellschaftungen schlüssig zu werden, deren Sache von da ab die Produktion in Freiland sein sollte. Die Ausschußsitzungen waren von jeher öffentlich gewesen, d. h. jedes Mitglied der Gesellschaft hatte Zutritt zu denselben und so sollte es auch fernerhin bleiben; eine bloß provisorisch eingeführte Neuerung dagegen war es , daß die Zuhörerschaft auch eingeladen wurde, an den Verhandlungen - allerdings nur mit beratender Stimme, teilzunehmen. Diese Maßregel hatte die Bestimmung, in der Zwischenzeit, bis die Presse ihre belehrende und überwachende Wirksamkeit beginnen konnte, deren Rolle zu übernehmen.

Die Grundlage des zur Durchführung gelangenden Organisationsplanes war schrankenlose Öffentlichkeit in Verbindung mit ebenso schrankenloser Freiheit der Bewegung. Jedermann in ganz Freiland mußte jederzeit wissen, in welchen Arbeitszweigen jeweilig der größere oder geringere Ertrag zu erzielen sei. Ebenso aber mußte jedermann in Freiland jederzeit das Recht und die Macht haben, sich - soweit seine Fähigkeiten und Fertigkeiten reichten - den jeweilig rentabelsten Arbeitszweigen zuzuwenden.

Es mußte also dafür gesorgt werden, daß Jedermann jederzeit in den Besitz der erforderlichen Arbeitsmittel gelangen könne. Dieser Arbeitsmittel giebt es zweierlei: Naturkräfte und Kapitalien. Ohne diese Beiden nützt die genaueste Kenntnis jener Arbeitszweige, nach deren Erzeugnissen gerade der dringendste Bedarf vorhanden ist und die deshalb die höchsten Erträge liefern, eben so wenig, als die vollendetste Geschicklichkeit in diesen Arbeiten. Der Mensch kann seine Arbeitskraft nur verwerten, wenn er über die von der Natur gebotenen Stoffe und Kräfte, wie nicht minder über entsprechende Instrumente und Maschinen verfügt; und zwar muß er, um mit seinen Mitbewerbern konkurrieren zu können, Beides in gleich guter und zweckdienlicher Beschaffenheit besitzen, wie diese.

[...]

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[...]

Der Ausschuß arbeitete daher zum Gebrauche der Associationen zwar ein sogenanntes "Musterstatut" aus, jedoch keineswegs in der Meinung, daß dasselbe sich wirklich mustergültig erweisen werde oder auch nur könne, sondern bloß um einen Anfang zu machen, den Genossenschaften gleichsam ein Formular zu bieten, das sie als Gerippe ihrer eigenen, durch Erfahrung allmählich entstehenden Organisationsentwürfe gebrauchen könnten. Thatsächlich war dieses "Musterstatut", anfangs von allen Genossenschaften beinahe unverändert angenommen, nach kaum einem Jahre überall so gründlich geändert und ergänzt, daß von seinen ursprünglichen Bestimmungen meist nur die leitenden Prinzipien übrig blieben. Diese aber waren die folgenden:

  1. Der Beitritt in jede Association steht Jedermann frei, gleichviel ob er zugleich Mitglied anderer Associationen ist, oder nicht; auch kann Jedermann jede Association jederzeit verlassen. Über die Verwendung der Associationsgenossen entscheidet die Direction.
  2. Jedes Mitglied hat Anspruch auf einen, seiner Arbeitsleistung entsprechenden Anteil am Reinertrage der Association.
  3. Die Arbeitsleistung wird jedem Mitgliede in Verhältnisse der geleisteten Arbeitsstunden berechnet, mit der Maßgabe jedoch, daß älteren Mitgliedern für jedes Jahr, um welches sie der Gesellschaft länger angehören, als die später Beigetretenen, ein Präcipuum eingeräumt ist. Ebenso kann für qualifizierte Arbeit im Wege freier Vereinbarung ein Präcipuum bedungen werden.
  4. Die Arbeitsleistung der Vorsteher oder Direktoren wird im Wege einer, mit jedem Einzelnen derselben zu treffenden freien Vereinbarung, einer bestimmten Anzahl täglich geleisteter Arbeitsstunden gleichgesetzt.
  5. Der gesellschaftliche Ertrag wird erst am Schlusse eines jeden Betriebsjahres berechnet und nach Abzug der Kapitalrückzahlungen und der an das freiländische Gemeinwesen zu leistenden Abgaben zur Verteilung gebracht. Inzwischen erhalten die Mitglieder Vorschüsse in der Höhe von ... Procent des vorjährigen Reinertrages für jede geleistete oder angerechnete Arbeitsstunde.
  6. Die Mitglieder haften für den Fall der Auflösung oder Liquidation der Association nach dem Verhältnisse ihrer Gewinnbeteiligung für die gesellschaftlichen Schulden, welche Haftung sich auch auf neueintretende Mitglieder überträgt. Auch erlischt mit dem Austritte eines Mitgliedes dessen Haftung für die schon kontrahiert gewesenen Darlehn nicht. Dieser Haftbarkeit für die Schulden der Association entspricht im Falle der Auflösung oder Liquidation der Anspruch der haftenden Mitglieder an das vorhandene Vermögen.
  7. Oberste Behörde der Association ist die Generalversammlung in welcher jedes Mitglied das gleiche aktive und passive Wahlrecht ausübt. Die Generalversammlung faßt ihre Beschlüsse mit einfacher Stimmenmehrheit; zu Statutsenderungen und zur Auflösung und Liquidation der Association ist ¾ Majorität erforderlich.
  8. Die Generalversammlung übt ihre Rechte entweder direkt als solche oder durch die gewählten Funktionäre, die ihr jedoch verantwortlich sind.
  9. Die Leitung der gesellschaftlichen Geschäfte ist einem Direktorium übertragen, das von der Generalversammlung gewählt wird und dessen Bestallung jederzeit widerruflich ist. Die untergeordneten Funktionäre der Geschäftsleitung werden von den Direktoren ernannt; doch geschieht die Feststellung des Gehaltes dieser Funktionäre - bemessen in Arbeitsstunden -auf Vorschlag der Direktoren durch die Generalversammlung.
  10. Die Generalversammlung wählt jährlich einen Aufsichtsrat, der die Bücher sowie das Gebahren der Geschäftsleitung zu überwachen und darüber periodischen Bericht zu erstatten hat.

Was in diesem Statute zunächst einer Erklärung bedarf, ist der scheinbare Widerspruch im ersten Absatze, in dessen Sinne zwar der Beitritt zu jeder Association von Jedermanns freiem Belieben, die Verwendung in der Association dagegen von Ermessen der Direktion abhängig ist. [...]

[S. 96]

9. Kapitel

Ausgedehnteste Öffentlichkeit aller wirtschaftlichen Vorgänge war - wie bereits erwähnt - die oberste Voraussetzung des richtigen Funktionierens der im Vorherigen geschilderten überaus einfachen Organisation, die in Wahrheit in nichts anderem, als in der Hinwegräumung aller, der freien Bethätigung von weisem Eigennutze geleisteter individueller Willkür im Wege stehenden Hindernisse bestand. Um so notwendiger war es, diese souveräne Willkur wohl zu beraten, dem Eigennutze alle Handhaben zu richtigem und raschem Erfassen seines wahren Vorteils zu bieten.

Kein wie immer geartetes Geschäftsgeheimnis! Das war gleichsam mit eines der Grundgesetze von Edenthal. Da draußen, wo der Kampf ums Dasein darin gipfelt, einander nicht blos auszubeuten und zu verknechten, sondern überdies wirtschaftlich zu vernichten, wo infolge der allgemeinen, aus Unterkonsum hervorgehenden Überproduktion konkurrieren gleichbedeutend ist mit: einander die Kunden abjagen; da draußen in der alten Welt wäre Preisgebung der Geschäftsgeheimnisse gleichbedeutend mit Preisgebung mühsam ergatterten, erlisteten Absatzes, also mit Untergang. Wo die ungeheure Mehrzahl der Menschen kein Anrecht auf steigende Produktionserträge besitzt, sondern sich - unbekümmert um die Ergiebigkeit der Arbeit - mit "Arbeitslohn", d. i. mit dem zur Lebenshaltung Erforderlichem begnügen muß, dort kann es auch keine Verwendung für die Gesamterträge hochproduktiver Arbeit geben. Denn die wenigen Besitzenden können unmöglich die stetig wachsenden Überschüsse verzehren und ihr Bestreben, solche zu kapitalisieren, d. h. in Arbeitsinstrumente zu verwandeln, scheitert an der Unmöglichkeit der Verwendung von Produktionsmitteln, für deren Produkte es keine Verwendung giebt. Es herrscht also in der

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ausbeuterischen Welt ein stetiges Mißverhältnis zwischen Produktivkraft und Konsum, zwischen Angebot und Nachfrage, und die selbstverständliche Folge ist, daß der Absatz Gegenstand eines eben so stetigen und schonungslosen Kampfes zwischen den verschiedenen Produzenten ist. Nicht möglichst viel und gut zu erzeugen, sondern für einen möglichst großen Teil der eigenen Erzeugnisse einen Markt zu erobern, ist die vornehmste Sorge der ausbeuterischen Produzenten, und da dieser Absatzmarkt angesichts des oben klargelegten Mißverhältnisses stets nur auf Kosten anderer Produzenten erlangt und behauptet werden kann, so besteht hier notwendigerweise ein dauernder und unversöhnlicher Interessengegensatz.

[.]

Ganz anders auch dies bei uns in Freiland. Wir lassen Jedermann teilnehmen an Jedermanns Geschäftsvorteilen, können dafür aber auch teilnehmen an Jedermanns Geschäftsvorteilen, und wir müssen diese veröffentlichen, weil mangels eines Marktes willen- und interesseloser Arbeiter, diese Veröffentlichung der einzige Weg ist, bei steigender Nachfrage entsprechende Arbeitskräfte heranzuziehen.

Und was die Hauptsache ist: während da draußen Niemand ein wirkliches Interesse daran hat, daß die Produktion Anderer sich hebe, ist

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bei uns Jedermann aufs lebhafteste dabei interessiert, daß Jedermann möglichst leicht und gut produziere. Denn die klassische Phrase von der Solidarität aller wirtschaftlichen Interessen ist bei uns zur Wahrheit geworden, während sie da draußen aber nichts anderes ist, als eine jener zahlreichen Selbsttäuschungen, aus denen sich die nationalökonomische Doktrin der ausbeuterischen Welt zusammensetzt.

[S. 332]

Schlußwort

Die Geschichte von "Freiland" ist zu Ende. Ich könnte zwar, den Faden der Erzählung weiter spinnend, das Befreiungswerk der Menschheit, wie es meinem geistigen Auge sich darstellt, in seinen Einzelheiten ausmalen; aber wozu sollte dies dienen? Wer aus dem Bisherigen nicht die Überzeugung geschöpft hat, daß wir an der Schwelle eines neuen, glücklicheren Zeitalters stehen und daß es nur von unserer Einsicht und unserem Willen abhängt, dieselbe sofort zu überschreiten, den werden auch Dutzende folgender Bände nicht überführen.

Denn nicht die wesenlose Schöpfung einer ausschweifenden Phantasie ist dieses Buch, sondern das Ergebnis ernsten, nüchternen Nachdenkens, gründlicher wissenschaftlicher Forschung. Alles, was ich als tatsächlich geschehen erzähle, es könnte geschehen, wenn sich Menschen fänden, die erfüllt gleich mir von der Unhaltbarkeit der bestehenden Zustände, sich zu dem Entschlusse aufrafften, zu handeln statt zu klagen.

[...]

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[...]

Wird diesen Blättern die Kraft innewohnen, mir die Genossen und Helfer zuzuführen, die zur Durchführung des großen Werkes erforderlich sind?

Wien, 1890

Theodor Hertzka.


Anmerkungen

Die ökonomische Vision Hertzkas wird in Meyers Konversationslexikon 1892 so beschrieben:

"Er konstruiert nicht einen Zustand, in welchem die Produktionsmittel verstaatlicht sind, sondern sucht Grundrente, Kapitalismus und Unternehmergewinn vom Boden des heutigen Wirtschaftssystems aus zu beseitigen. Was z. B. den Unternehmergewinn anbelangt, so verschwindet dieser, indem sich die Arbeiter zu großen freien Produktivgesellschaften vereinen und somit den Ertrag ihrer Arbeit für sich behalten. Grund und Boden ist herrenlos und jedermann berechtigt, ihn zu bebauen, sowie dessen Früchte einzuheimsen, ohne jedoch ein Grundeigentum zu erwerben. Kapitalien werden vom Staate zinsenlos vorgeschossen. Die Arbeitsleistung erfolgt allgemein durch freie Associationen. In allen wirtschaftlichen Angelegenheiten wird die größte Publizität in Verbindung mit der ausgebildetsten Statistik gehandhabt. Da ferner die Bethätigung der Bewohner die denkbar freieste ist, so erfolgt die jeweilige Anpassung der Produktion an den Bedarf ohne Schwierigkeit. Geld besteht, und zwar nach Goldwährung, ebenso eine Steuer, und zwar eine einheitliche 35proz. auf den Nettoertrag jeder Produktion. Die Frauen und Arbeitsunfähigen werden von Staats wegen erhalten. Die sozialistischen Spuren in Hertzkas »Freiland« sind somit anscheinend gering, und er selbst verwahrt sich auch nachdrücklich gegen eine solche Ansicht. Er will nur der sogen. heutigen Ausbeutung der Arbeiter ein Ende machen und erhofft dies durch die Beseitigung des sonst unangetasteten Eigentums an Grund und Boden, durch die freien Associationen und die zinsenlose Gewährung des beweglichen Kapitals durch den Staat."

Autorenkollektiv, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885-1892

19. Band: Jahres-Supplement 1891-1892 unter Staatsromane (sozialistische), S. 866: retrobibliothek.de

John Stuart Mill (1806 - 1873) war ein englischer Philosoph und Ökonom und einer der einflussreichsten liberalen Denker des 19. Jahrhunderts. Er war Anhänger des Utilitarismus. Seine wirtschaftlichen Werke zählen zu den Grundlagen der klassischen Nationalökonomie, und Mill selbst gilt als Vollender des klassischen Systems und zugleich als sozialer Reformer.

In Grundsätze der politischen Ökonomie (Principles of Political Economy) beschreibt Mill seinen stationären Zustand. Er geht davon aus, dass nach Erreichen des Wachstumsziels (ein Leben in Wohlstand für alle) eine Zeit des Stillstands kommen müsse. Dieser stationäre wirtschaftliche Zustand bedeutet für ihn jedoch nicht, dass auch kein intellektueller, kultureller und wissenschaftlicher Fortschritt stattfindet und auch ein Mangel an Waren vorhanden ist. Stillstand herrscht allein in Bezug auf die Kapital- und Bevölkerungszunahme. Es ist ein Zustand in dem "[...] keiner arm ist, niemand reicher zu sein wünscht, und niemand Grund zu der Furcht hat, dass er durch die Anstrengungen anderer, die sich selbst vorwärts drängen, zurückgestoßen werde." Das Streben nach Wachstum bezeichnet Mill als Sucht. Er geht davon aus, dass gesellschaftliche, kulturelle und sittliche Fortschritte umso größer wären, würde der Mensch dieser Sucht entsagen. Erwerbstätigkeit kann ebenso in Mills stationärem Zustand stattfinden, "nur mit dem Unterschiede, dass die industriellen Verbesserungen anstatt nur der Vermehrung des Vermögens zu dienen, ihre ursprüngliche Wirkung hervorbrächten, nämlich die Arbeit zu verkürzen." Quelle: de.wikipedia.org

Emile Louis Victor de Laveleye (1822 - 1892), belgischer Nationalökonom. Er war 1873 an der Gründung des Institut de Droit international (Institut für Völkerrecht) beteiligt, einer bis in die Gegenwart bestehenden Einrichtung, die 1904 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Sein Wirken umfasste weite Bereiche der politischen Wissenschaften und der Ökonomie sowie Probleme der Geldpolitik, des Völkerrechts und der internationalen Beziehungen. Quelle: de.wikipedia.org

Francis Bacon (1561 - 1626), englischer Philosoph und Staatsmann, gilt als einer der Begründer der modernen Wissenschaft; in "The New Atlantis", einer Utopie, regt er die Gründung wissenschaftlicher Akademien nach seinen Vorstellungen an.