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Otto Lilienthal: Der Vogelflug als Grundlage der Fliegekunst, Berlin 1889

Kapitel 38

Der Vogel als Vorbild 

Daß wir uns die Vögel zum Muster nehmen müssen, wenn wir danach streben, die das Fliegen erleichternden Prinzipien zu entdecken, und demzufolge das aktive Fliegen für den Menschen zu erfinden, dieses geht aus den bisher angeführten Versuchsresultaten eigentlich ohne weiteres hervor.

Wir haben gesehen, daß beim wirklichen Vogelfluge so viele auffallend günstige, mechanische Momente eintreten, daß man auf die Möglichkeit des freien Fliegens wohl ein für allemal verzichten muß, wenn man diese günstigen Momente nicht auch benutzen will.

Unter dieser Annahme ist es am Platze, noch einmal etwas näher auf die besonderen Erscheinungen beim Vogelfluge einzugehen.

Selbstverständlich werden wir uns, wenn wir die Vögel als Vorbild nehmen, nicht nach denjenigen Tieren richten, bei denen. wie bei vielen Laufvögeln, die Flügel fast anfangen rudimentär zu werden. Auch kleinere Vögel, wie die Schwalben, obwohl wir deren Meisterschaft und Gewandtheit im Fliegen bewundern müssen, gewähren uns nicht das vorteilhafteste Beobachtungsobjekt. Sie sind zu winzig und ihre ununterbrochene Jagd auf Insekten erfordert zu viele unstäte Bewegungen.

Will man eine Vogelart herausgreifen, welche in besonderem Maße geeignet ist, als Lehrmeisterin zu dienen, so können wir z. B. die Möwen als solche bezeichnen.

An der Meeresküste hat man die ausgiebigste Gelegenheit, diese Vögel zu beobachten, welche, da sie wenig gejagt werden, große Zutraulichkeit zum Menschen besitzen und am Beobachter in fast greifbarer Nähe vorbeifliegen. Wenige Armlängen nur entfernt in günstiger Beleuchtung unterscheidet man jede Wendung ihrer Flügel und kann, mit den eigentümlichen Erscheinungen des Luftwiderstandes am Vogelflügel vertraut, nach und nach einige Rätsel ihres schönen Fluges entziffern. Was aber für die Möwen gilt, gilt mehr oder weniger auch für alle anderen Vögel und für alle fliegenden Tiere überhaupt.

Wie aber fliegt die Möwe? Gewöhnlich ist die Luft an der See bewegt, und meistens hat daher die Möwe Gelegenheit, sich segelnd in der Luft fortzubewegen, nur dann und wann mit einigen Flügelschlägen nachhelfend, selten kreisend, bald rechts oder links umbiegend, bald steigend, bald sinkend, den Kopf geneigt und immer mit den Augen die futterspendende Wasserfläche durchsuchend.

Die Flügelschläge mit den schlanken, schwach gewölbten Schwingen lassen auf den ersten Blick eine auffallende Bewegungsart erkennen. Diese Flügelschläge erhalten nämlich dadurch ein besonders sanftes und elastisches Aussehen, daß eigentlich nur die Flügelspitzen sich wesentlich auf und nieder bewegen, während der breitere, dem Körper naheliegende Armteil der Flügel nur wenig an diesem Flügelausschlage teilnimmt, und ein Bewegungsbild in die Erscheinung tritt, wie Fig. 67 im Anfang des Auf- und Niederschlages zeigt.

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Weist uns aber nicht wiederum die Möwe hier einen Weg, auf dem wir abermals zu einer Flugerleichterung, zu einer Kraftersparnis gelangen? Ist aus dieser Bewegungsform nicht sofort herauszulesen, daß die Möwe mit den wenig auf und nieder bewegten Armteilen ihrer Flügel ruhig weiter segelt, während die nur aus Schwungfedern bestehenden, leicht drehbaren Flügelhände die verlorene Vorwärtsgeschwindigkeit ergänzen? Es ist die Absicht unverkennbar, den dem Körper naheliegenden breiteren Flügelteil bei wenig Ausschlag und wenig Arbeitsleistung zum Tragen zu verwenden, während die schmalere Flügelspitze bei wesentlich stärkerem Ausschlag die vorwärts ziehende Wirkung in der Luft besorgt, um dem Luftwiderstand des Vogelkörpers und der etwa noch vorhandenen hemmenden Luftwiderstandskomponente am Flügelarm das Gleichgewicht zu halten.

Wenn dieses feststeht, so muß man in dem Flugorgan des Vogels, das um das Schultergelenk als Drehpunkt sich auf und nieder bewegt, das durch seine Gliederung eine verstärkte Hebung und Senkung, sowie eine Drehung der leichten Flügelspitze bewirken läßt, eine höchst sinnreiche, volkommene Anordnung bewundern.

Der Armteil des Flügels ist schwer, er enthält Knochen, Muskeln und Sehnen, er setzt daher jeder schnelleren Bewegung eine größere Trägheit entgegen. Dieser breitere Flügelteil ist aber zum Tragen wohl geeignet, weil er nahe am Körper liegend durch den kürzeren Hebelarm des Luftwiderstandes ein kleineres, den ganzen Flügelbau weniger beanspruchendes Biegungsmoment ergibt. Die Flügelhand dagegen ist federleicht, weil sie eigentlich fast nur aus Federn besteht. Sie ist nicht an einem schnellen Heben und Senken gehindert. Der durch sie verursachte Luftwiderstand würde aber, wenn er dem größeren Flügelausschlag entsprechend zunähme, sowohl eine unvorteilhafte starke Beanspruchung der Flügel, als auch einen großen Arbeitsaufwand verursachen. Es ist eben zu vermuten, daß die Funktion der Flügelspitzen weniger in der Erzeugung eines größeren hebenden als vielmehr eines kleineren, aber vor allen Dingen vorwärts ziehenden Luftwiderstandes besteht.

Und in der Tat, die Beobachtung hinterläßt hierüber keinen Zweifel; man braucht nur bei Sonnenschein die Möwen zu beobachten und wird an den Lichteffekten die wechselnde Neigung der Flügelspitzen deutlich wahrnehmen, die ein förmliches Aufblitzen bei jedem Flügelschlag hervorruft. Es bietet sich ein veränderliches Bild, wie in den zwei Figuren 68 und 69, an denen einmal die Flügelstellung beim Aufschlag, das andere Mal beim Niederschlag angegeben ist. Die von uns fortfliegende Möwe zeigt uns beim Aufschlag Fig. 68 die Oberseite ihrer Flügelspitzen hell von der Sonne beschienen, während wir beim Niederschlag Fig. 69 die schattige Höhlung von hinten erblicken. Offenbar geht also die Flügelspitze mit gehobener Vorderkante herauf und mit gesenkter Vorderkante herunter, was beides auf eine ziehende Wirkung hindeutet.

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Auch die an uns vorbeieilende Möwe wird dem geübten Beobachter verraten, welche Rolle die Flügelspitzen bei den Flügelschlägen spielen.

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Fig. 70 zeigt eine Möwe beim Flügelniederschlag von der Seite gesehen. Nach der Spitze zu hat der Flügel den nach vorn geneigten Querschnitt a c b. Der absolute Weg dieser Flügelstelle hat die Richtung c d, und c e ist der entstandene Luftwiderstand. Man sieht, wie letzterer außer der hebenden gleichzeitig eine vorwärtsziehende Wirkung erhält.

Ob aber der Flügel beim Aufschlag in allen Teilen eine ähnliche Rolle übernimmt, also zum Vorwärtsziehen dient, ist nicht ein für allemal ausgemacht. Wäre dieses der Fall, so könnte es unbedingt nur auf Kosten einer gleichzeitig niederdrückenden Wirkung geschehen. Vielleicht geschieht es in stärkerem Grade dann, wenn es dem Vogel um ganz besondere Schnelligkeit zu tun ist.

Im übrigen kann der Aufschlag auch bei solcher Neigung vor sich gehen, daß ein Druck weder von oben noch von unten kommt; und endlich kann der Aufschlag so geschehen, daß noch eine Hebung daraus hervorgeht. Im letzteren Falle tritt der bemerkenswerte Umstand ein, daß bei einem solchen Fluge alle Flügelteile während der ganzen Flugdauer hebend wirken, und welch günstigen Einfluß dies auf die Arbeitsersparnis ausübt, haben wir früher gesehen.

Allerdings wird der Aufschlag viel weniger Hebung hervorbringen als der Niederschlag, es erwächst aber auch schon ein Vorteil für den Vogel, wenn beim Aufschlag nur so viel Widerstand von unten entsteht, als zur Hebung des Flügels und Überwindung seiner Massenträgheit erforderlich ist, so daß der Vogel beim Heben der Flügel so gut wie keine Kraft anzuwenden braucht.

OriginalzeichnungHierbei ist es noch denkbar, daß beim vorwärtsfliegenden Vogel der Luftwiderstand sich am aufwärts geschlagenen und windschief gedrehten Flügel, wenn eine verstärkte Hebung des Handgelenkes hinzutritt, so verteilt, daß ein hebender Druck am Flügelarm entsteht, während die Flügelspitze Widerstände erfährt, welche, schräg nach vorn und unten gerichtet, ziehend wirken, wie in Fig. 71 angedeutet ist. Die schädlichen, abwärts drückenden Bestandteile des Widerstandes an der Spitze werden dann durch die nach oben gerichteten Widerstände am Armteil desselben Flügels überwunden und unschädlich gemacht.

In dieser Weise kann man sich vorstellen, daß beim Ruderflug während des Aufschlages der Flügel noch eine teilweise Hebung erfolgt, während keine Hemmung der Fluggeschwindigkeit eintritt oder womöglich noch ein kleiner nach vorn gerichteter Treibedruck übrigbleibt.

Daß übrigens die vorwärtsfliegenden Vögel auch während des Flügelaufschlages den Luftwiderstand hebend auf sich einwirken lassen, beweist ein einfaches Rechenexempel, indem man vergleicht, wieviel der Vogel in seiner Flugbahn mit seinem Schwerpunkte sich heben und senken würde, wenn er nur durch Niederschlagen der Flügel sich höbe gegenüber der Hebung und Senkung, welche beim fliegenden Vogel in der Tat festgestellt werden kann.

Eine große Möwe hebt und senkt sich auch in Windstille beim Ruderfluge kaum um 3 cm, obwohl sie bei ihren 2 1/2 Flügelschlägen pro Sekunde sich bei jedem Doppelschlag etwa um 10 cm heben und senken müßte, wenn nur der Niederschlag sie trüge.

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Die Schlangenlinie in Fig. 72 gibt ein Bild vom absoluten Wege des Schwerpunktes einer Möwe, welche von links nach rechts fliegend nur durch die Niederschläge der Flügel eine Hebung hervorruft, während der Aufschlag ohne wesentlichen Widerstand vor sich geht.

Rechnet man eine gleiche Zeitdauer zum Heben und Senken der Flügel, so kommt 1/5 Sekunde zum Auf- und 1/5 Sekunde zum Niederschlag.

In a beginnt die Möwe die Flügel zu heben; ihre vorher erlangte aufwärts gerichtete Geschwindigkeit verzehrt sich unter dem Einfluß ihres Gewichtes und verwandelt sich in ein Sinken. Der Möwenschwerpunkt beschreibt einfach die Wurfparabel a b c, während die Flügelhebung vollendet wird. Von a bis b und von b bis c braucht die Möwe je 1/10 Sekunde. Dem Gesetz der Schwere folgend, die jeden Körper in t Sekunden den Weg s = 1/2*g*t² zurücklegen läßt, wo g die Beschleunigung der Schwere gleich 9,81 m bedeutet, wird auch die Möwe in 1/10 Sekunde um den Weg s =1/2 *9,81*1/100 = ca. 0,05 m oder um 5 cm fallen. Der Bogen a b c ist also 5 cm hoch.

Jetzt kehrt sich das Spiel um, und die Flügel schlagen herunter, den doppelten Luftwiderstand des Möwengewichtes erzeugend, so daß als Hebekraft das einfache Möwengewicht übrig bleibt. Der Schwerpunkt beschreibt daher den gleichen, jetzt nur nach unten liegenden Bogen c d e, der ebenfalls um 5 cm gesenkt ist. Die ganze Hebung und Senkung betrüge also zusammen 10 cm, wie behauptet wurde.

Etwas anders wird zwar der Ausfall der Rechnung, wenn der Flügelaufschlag schneller erfolgt als der Niederschlag; aber selbst wenn die Aufschlagzeit nur 2/5 der Doppelschlagperiode ausmacht, erhält man immer noch über 6 cm Hub des Schwerpunktes. Man kann daher wohl auf eine Hebewirkung während des Flügelaufschlages schließen, wenn sich die Beobachtung mit der Rechnung decken soll.

Wir müssen aber diese Eigentümlichkeit der Flügelschlagwirkung wiederum als ein Moment zur vorteilhaften Druckverteilung auf den Flügel und somit als einen Faktor zur Erleichterung beim Fliegen ansehen.

Dieser Vorteil erwächst den Vögeln wie allen fliegenden Tieren also daraus, daß ihre Flügel eine auf und nieder pendelnde Bewegung machen, deren Ausschlag allmählich von der Flügelwurzel bis zur Spitze zunimmt.

Auf diese Weise beschreibt nun jeder Flügelteil in der Luft einen anderen absoluten Weg. Die Teile nahe am Körper haben fast keine Hebung und Senkung und im wesentlichen beim normalen Ruderfluge nur Horizontalgeschwindigkeit, sie werden daher eine ähnliche Funktion verrichten wie beim eigentlichen Segeln der Vögel der ganze Flügel verrichtet, und dementsprechend wird die Lage dieser Flügelteile eine solche sein, daß ein möglichst hebender Luftdruck von unten auf ihnen ruht, ohne eine allzu große hemmende Kraftkomponente zu besitzen. Die dennoch stattfindende Hemmung des Vorwärtsfliegens, namentlich auch durch den Vogelkörper hervorgerufen, wird dadurch aufgehoben, daß beim Niederschlag die Flügelenden in ihrem mehr abwärts geneigten absoluten Wege selbst eine nach vorn geneigte Lage annehmen und einen schräg nach vorn gerichteten Luftwiderstand erzeugen, der groß genug ist, die gewünschte Vorwärtsgeschwindigkeit aufrecht zu erhalten.

Während nun beim Flügelaufschlag die nahe dem Körper gelegenen Teile fortfahren, beim Durchschneiden der Luft tragend zu wirken, werden die mehr Ausschlag machenden Flügelteile, deren absoluter Weg schräg aufwärts gerichtet ist, eine solche Drehung erfahren, daß dieselben möglichst schnell und ohne viel Widerstand zu finden in die gehobene Stellung zurückgelangen können. Wir haben uns demnach die von den einzelnen Flügelteilen beschriebenen schwachen und stärkeren Wellenlinien wie in der Fig. 73 angegeben zu denken, während die einzelnen Flügelquerschnitte dabei Lagen annehmen und Luftwider-stände erzeugen, wie sie in dieser Figur eingezeichnet sind. Hierbei ist angenommen, daß beim Aufschlag alle Flügelteile hebend mitwirken.

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Die Mittelkraft dieser Luftwiderstände muß so groß und so gerichtet sein, daß einmal dem Vogelgewicht und zweitens dem Luftwiderstand des Vogelkörpers das Gleichgewicht gehalten wird.

Um dies hervorzurufen, muß sich also der Vogelflügel beim Auf- und Niederschlag drehen, an der Wurzel fast gar nicht, in der Mitte wenig, an der Spitze viel.

Die Drehung wird vor sich gehen beim Wechsel des Flügelschlages. Während dieses Umwechselns der Flügelstellung, wobei immer eine gewisse Zeit vergehen wird, findet vielleicht, namentlich an den Flügelenden, wo viel Drehung nötig ist, ein geringer Verlust statt. Dieser Verlust beim Hubwechsel wird um so geringer sein, je schmaler die Flügel sind. Als Beispiel sei der Albatros erwähnt, dessen Flügelbreite nur etwa 1/8 der Flügellänge beträgt.

Bei Vögeln mit breiten Flügeln, wie bei den Raub- und Sumpfvögeln, hat die Natur daher auch wohl aus diesem Grunde die Gliederung der Schwungfedern herausgebildet, so daß der geschlossene Flügelteil nur ganz schwache Drehungen zu machen braucht, während die stärkeren Drehungen von jeder Schwungfeder allein ausgeführt werden.

Die Rolle der ungeteilten Flügelspitzen der Möwen übernehmen also bei den Vögeln mit ausgebildetem Schwungfedermechanismus wahrscheinlich die einzelnen Schwungfedern selbst. Zu dem Ende müssen, was auch der Fall ist, die Schwungfedern einzelne, schmale, gewölbte Flügel bilden, und sich genügend drehen können, sie dürfen sich daher nicht gegenseitig überdecken.

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Wer die Störche beim Fliegen aufmerksam beobachtet hat, wird ein solches Spiel der Schwungfedern bestätigen können, indem beim wechselnden Auf- und Niederschlag der Durchblick durch die gespreizten Fingerfedern bald frei, bald verhindert ist.

Wie zweckbewußt die Natur hierbei zu Werke ging, zeigt die Konstruktion derartiger Schwungfedern und die scharfe Trennung des geschlossenen Flügelteils von demjenigen Teil, der sich in einzelne drehbare Teile gliedert.

Zunächst sehen wir dies an Fig. 74, an der in 1/6 Maßstab gezeichneten Schwungfeder des Kondors.

In der Nähe ihres Kieles ist die Fahne der Feder 75 mm breit und hat bei a den Querschnitt Fig. 75, der wohl geeignet ist, die nächste Feder von unten dicht zu überdecken und eine sicher geschlossene Fläche zu bilden.

Der längere vordere Teil der Feder hat beiderseits viel schmalere Fahnen und zwar ist die Feder bei b 48 mm und bei c 55 mm breit. Der Querschnitt dieses schmaleren, einen gesonderten Flügel bildenden Teiles ist nach Fig. 76 geformt und hier im natürlichen Maßstabe dargestellt, um ein genaues Bild seiner parabolischen Wölbung geben zu können, und zwar im belasteten Zustande, wo der Kondor kreisend auf der Luft ruhend gedacht ist. Dergleichen Schwungfederfahnen sind übrigens so stark, daß, obwohl eine stärkere Längsverbiegung der Feder eintritt, der Fahnenquerschnitt sich nur sehr wenig verändert.

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Wenn man eine solche Schwungfeder nach Abschnitt 27, Fig. 36 behandelt, so findet man eine vom Kiel anfangende und bis zum Ende der Feder zunehmende Torsion derselben, die davon herrührt, daß die hintere Fahne bedeutend breiter, etwa 6mal so breit ist als die vordere. Diese Verdrehung der Feder steht aber im vollkommenen Einklang mit ihrer Funktion, Luftwiderstände zu erzeugen, die vorwärtsziehend wirken.

Wir sehen hier, daß jede einzelne eigentliche Schwungfeder einen kleinen getrennten Flügel für sich bilden soll, der imstande ist, seine zweckdienlichen gesonderten Bewegungen und namentlich gesonderte Drehungen auszuführen.

Am deutlichsten läßt dies der in den Figuren 77 und 78 sowohl beim Auf- als auch beim Niederschlag gezeichnete Querschnitt durch den Schwungfedermechanismus des Kondors erkennen.

Besonders auf die getrennte Wirkung der Schwungfedern hindeutend ist auch noch ihr Breiterwerden nach der Spitze zu anzusehen (siehe Punkt c Fig. 74). Dieses hat offenbar nur bessere Flächenausnützung bei vollkommen freier Drehung zum Zweck bei diesen radial stehenden Federn.

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Was zur Ausführung dieser einzelnen Federdrehungen den Vögeln an Sehnen und Muskeln fehlt, und was das Fester- und Loserlassen der Häute, in denen der Federkiel steckt, an Drehung nicht hervorzubringen vermag, wird möglicherweise dadurch ersetzt, daß jede Schwungfeder nach vorn eine schmale, nach hinten aber eine breite Fahne hat. Die Natur macht nichts ohne besondere Absicht. Die Konstruktion dieser Schwungfedern deutet offenbar auf ihre Verwendung hin, nach welcher sie als die Auflösung eines größeren, breiten , geschlossenen Flügels in mehrere einzelne schmale, leichter drehbare Flügel anzusehen sind, welche sich aber nicht überdecken dürfen, damit die hinteren breiteren Fahnen, wenn nicht durch willkürliche Muskelkraft, so doch durch den auf der breiten hinteren Fahne ruhenden Luftdruck beim Niederschlag nach oben durchschlagen können. Es ist dies ein Hauptmerkmal der Schwungfedereinrichtung bei allen größeren Raub- und Sumpfvögeln, welches auch wohl schwerlich anders gedeutet werden kann.


 

Wir können dieses Thema nun nicht verlassen, ohne noch einmal auf einen Vogel zurückzukommen, welcher gleichsam zum Beispiel für den Menschen geschaffen zu sein scheint, welcher als einer der größten Vögel unseres Erdteiles auch alle Künste des Fliegens versteht, ein Vogel, den wir in seinem Naturzustande, in der vollen Freiheit seiner Bewegungen beobachten können, wie keinen anderen. Ich meine den Storch, der alljährlich in unsere Ebenen aus seiner, tief im Innern Afrikas gelegenen, zweiten Heimat zurückkehrt, der auf unseren Häusern geboren wird, auf unseren Dächern seine Jugendtage verlebt und über unseren Häuptern von seinen Eltern im Fliegen unterrichtet wird.

Fast möchte man dem Eindrucke Raum geben, als sei der Storch eigens dazu geschaffen, um in uns Menschen die Sehnsucht zum Fliegen anzuregen und uns als Lehrmeister in dieser Kunst zu dienen; fast hört man's, als rief er die Mahnung uns zu:

 

0, sieh', welche Wonne hier oben uns blüht,
Wenn kreisend wir schweben im blauen Zenith,
Und unter uns dehnt sich gebreitet
Die herrliche, sonnenbeschienene Welt,
Umspannt vom erhabenen Himmelsgezelt,
An dem nur dein Blick uns begleitet!

Uns trägt das Gefieder; gehoben vom Wind
Die breiten, gewölbten Fittiche sind;
Der Flug macht uns keine Beschwerde;
Kein Flügelschlag stört die erhabene Ruh'.
0, Mensch, dort im Staube, wann fliegest auch du?
Wann löst sich dein Fuß von der Erde?

Und senkt sich der Abend, und ruhet die Luft,
Dann steigen wir nieder im goldigen Duft,
Verlassen die einsame Höhe.
Dann trägt uns der Flügelschlag ruhig und leicht
Dem Dorfe zu, ehe die Sonne entweicht;
Dann suchen wir auf deine Nähe.

So siehst du im niedrigen Fluge uns zieh'n
Im Abendrot über die Gärten dahin.
Zum Neste kehren wir wieder.
Auf heimischem Dache dann schlummern wir ein,
Und träumen von Wind und von Sonnenschein,
Und ruh'n die befiederten Glieder.

Doch treibt dich die Sehnsucht, im Fluge uns gleich
Dahinzuschweben, im Lüftebereich
Die Wonnen des Flug's zu genießen,
So sieh unsern Flügelbau, miß unsre Kraft,
Und such aus dem Luftdruck, der Hebung uns schafft,
Auf Wirkung der Flügel zu schließen.

Dann forsche, was uns zu tragen vermag
Bei unserer Fittige mäßigem Schlag,
Bei Ausdauer unseres Zuges!
Was uns eine gütige Schöpfung verlieh'n,
Draus mögest Du richtige Schlüsse dann zieh'n,
Und lösen die Rätsel des Fluges.

Die Macht des Verstandes, o, wend sie nur an,
Es darf dich nicht hindern ein ewiger Bann,
Sie wird auch im Fluge Dich tragen!
Es kann deines Schöpfers Wille nicht sein,
Dich, Ersten der Schöpfung, dem Staube zu weih'n,
Dir ewig den Flug zu versagen!

Was treibt denn den Storch sonst, die Nähe des Menschen zu suchen? Den Schutz des Menschen braucht er nicht; er hat keinen Feind aus dem Tierreiche zu fürchten, und Marder sowie Katzen, die seiner Brut schaden könnten, finden sich auf den Dächern mehr als in der Wildnis. Aber auch diese werden sich hüten, ihn zu stören; denn seine Schnabelhiebe würden sie töten oder wenigstens ihres Augenlichtes berauben. Sein schwarzer Stammesbruder, der seinen menschenfreundlichen Zug mit ihm nicht teilt, trotzdem er in der Gefangenschaft ebenso zahm wird, läßt ihm auch genug Bäume des Waldes übrig, auf denen er seinen Horst fest und sicher aufschlagen könnte. Es ist also keine Wohnungsnot, die ihn zwingt, zu den Bäumen oder Dächern der Dörfer und Städte seine Zuflucht zu nehmen. Sollte die Stimme, der Gesang des Menschen es sein, was ihn anzieht, seine Nähe aufzusuchen, oder hat er vielleicht Freude an des Menschen Wirken und Schaffen? Wer könnte jemals sicheren Aufschluß hierüber geben, ohne die eigentümliche Sprache des Storches zu verstehen?

Jedenfalls reicht diese Freundschaft und dieses Zusammenleben zwischen Storch und Mensch in die sagenhafte Vorzeit zurück; uns aber bleibt nichts anderes übrig, als darüber erfreut zu sein, daß es, sei es durch Klugheit, Zufall oder Aberglauben, so gekommen ist, daß einer der größten Vögel und vorzüglichsten Flieger selbst den Menschen aufsucht, und gerade dann, wenn der herrliche Himmel der warmen Jahreszeit uns in seine Räume lockt, den Anblick seiner Fittiche mit ihren weichen, schönen Bewegungen zu unserem Fliegestudium darbietet.

Aber die große Stadt zieht den Storch nicht an, in den stillen Dörfern fühlt er sich am wohlsten, und dort zeigt er sich gegen den Menschen, der ihn stets schonte, sehr zutraulich. So sieht man ihn ganz dicht bei den Feldarbeitern Nahrung suchen. Im hohen Kornfeld, das für ihn so rnanche Leckerbissen verbirgt, kann er weder gehen noch von demselben wieder auffliegen, darum leistet er den Schnittern Gesellschaft, um dicht hinter ihnen die frei gewordene Fläche nach Ungeziefer abzusuchen. Er weiß, daß unter den Kartoffelsäcken die Mäuse sich gern verbergen, und wenn die Säcke mit den Frühkartoffeln auf den Wagen geladen werden, paßt er gut auf, und manche Feldmaus wandert dabei in seinen Kropf. Angesichts dieser nützlichen Beschäftigung würde der Landmann ein Tor sein, den Storch nicht zu hegen und zu pflegen, wo er nur kann. Diese praktischen Gesichtspunkte verschaffen dem Landbewohner nun aber auch das Vergnügen, seinen Freund als prächtigen Flieger täglich über sich zu sehen.

Es ist wirklich kein Wunder, wenn die Landleute, über deren Haus und Hof in jedem Sommer ein großes Fliegen dieser 2 m klafternden Vögel beginnt, ein reges Interesse für die Fliegekunst an den Tag legen. Aber der Landmann fürchtet, für einen Windbeutel gehalten zu werden, wenn jemand erfährt, daß er sich mit einer so brotlosen Kunst abgibt. Und dennoch ist der Verfasser aus keinem anderen Stande so oft als aus diesem angegangen worden, leichte Betriebsmaschinen zu einem verschämt geheim gehaltenen Zweck zu konstruieren.

Gewährt nun schon die Beobachtung des eigentlich wilden Storches, wenn er diesen Namen überhaupt verdient, viel Anregendes, so ist der Umgang mit ganz gezähmten Störchen erst recht interessant und lehrreich. Der junge aus dem Nest genommene Storch läßt sich mit Fleisch und Fisch leicht aufkröpfen und gewöhnt sich sehr an seinen Pfleger; er erreicht einen hohen Grad von Zutraulichkeit und weicht der liebkosenden Hand seines Herrn nicht aus.

Die Flugübungen solcher jung gezähmter Störche geben Anlaß zu den mannigfaltigsten Betrachtungen. Der Jungen Wohnstätte ist von den Dächern entfernter Dörfer in den Garten verlegt, dem sie durch Vertilgung von Ungeziefer sehr nützlich sind. Mehr wie einen jungen Storch erlangt man übrigens selten aus einem Nest, das gewöhnlich vier Junge enthält, denn die Besitzer von Storchnestern hängen mit inniger Liebe an ihrem Hausfreund auf dem Dache und lassen meist um keinen Preis irgendwelche Störung der Storchfamilie zu. Man muß es daher schon als eine ganz besondere Vergünstigung betrachten, wenn man ein einziges Junges aus dem Neste nehmen darf. Die Beschaffung mehrerer junger Störche kann daher auch nur aus mehreren Nestern, sogar meist nur aus mehreren Dörfern geschehen. Dies ist aber auch dann nötig, wenn man Paarungen der gezähmten Störche beabsichtigt, weil der Storch die Inzucht haßt, und die Geschwister niemals Paarungen untereinander eingehen.

Im Garten oder Park also wachsen die zahmen Jungen heran und der große Rasenplatz dient als Versuchsfeld für die Flugübungen.

Zunächst wird die grüne Fläche des Morgens nach Insekten und Schnecken abgesucht, und mancher Regenwurm, der noch von seinem nächtlichen Treiben her mit dem spitzen Kopfe aus der Erde hervorlugt, wird von den scharfen Augen selbst im tiefsten Grase erspäht, mit der Schnabelspitze langsam hervorgezogen, damit er nicht abreißt, und mit Appetit in den Schlund geworfen. Dann aber beginnt das Studium des Fliegens, wobei zunächst die Windrichtung ausgekundschaftet wird. Wie auf dem Dache, so werden auch hier alle Übungen gegen den Wind ausgeführt. Aber der Wind ist hier nicht so beständig wie auf dem Dache und daher die Übung schwieriger. Zuweilen ruft ein stärkerer, von einer geschützten Seite anwehender Wind Luftwirbel hervor, die bald von hier, bald von dort anwehen. Dann sieht es lustig aus, wie die übungsbeflissenen Störche mit gehobenen Flügeln herumtanzen und nach den Windstößen haschen, die bald von vorn, bald von hinten, bald von der Seite kommen. Gelingt ein so versuchter kurzer Aufflug, dann erschallt sofort freudiges Geklapper. Bläst der Wind beständig von einer freien Seite über die Lichtung, dann wird ihm hüpfend und laufend entgegengeflogen, Kehrt gemacht, und gravitätisch wieder an das andere Ende des Platzes stolziert, um von neuem den Anflug gegen den die Hebung erleichternden Wind zu versuchen.

So werden die Übungen täglich fortgesetzt. Zuerst gelingt bei einem Aufsprung nur ein einziger Flügelschlag; denn bevor zum zweiten Schlage ausgeholt ist, stehen die langen, vorsichtig gehaltenen Beine schon wieder auf dem Boden. Sowie aber diese Klippe erst überwunden ist, wenn der zweite Flügelschlag gemacht werden kann, ohne daß die Beine aufstoßen, wenn der Storch also beim zweiten Heben der Flügel den Boden nicht erreichte, dann geht es mit Riesenschritten vorwärts; denn die vermehrte Vorwärtsgeschwindigkeit erleichtert den Flug, so daß auch bald drei, vier und mehr Flügelschläge bündig hintereinander in einem Satze ausgeführt werden können; unbeholfen, ungeschickt, aber nie unglücklich, weil stets vorsichtig.

Der Storch aber, den man bei niedrigem, langsamem Fluge an den durch Bäume geschützten überwindigen Stellen für einen Stümper hielt, erlangt sofort eine Sicherheit und Ausdauer im Fluge, sobald er über die Baumkronen sich erheben kann und den frischen Wind unter den Flügeln verspürt. Daran merkt man so recht, was der Wind den Vögeln ist, indem auch die jungen Störche gleich durch den Wind verführt werden, die anstrengenden Flügelschläge zu sparen und das Segeln zu versuchen.

Durch diese unerwartete Vervollkommnung im Fluge der jungen Störche, habe ich einst meine drei besten Flieger verloren; denn ich glaubte an eine so schnelle Entwickelung nicht, als eine nur dreitägige Reise mich von Haus rief und gab daher keine Anweisung, die Störche eingesperrt zu halten, obwohl die Zeit des Abzuges nahte. Bei meiner Rückkehr mußte ich denn auch leider erfahren, daß durch den höheren Flug und die zufällig eingetretenen windigen Tage diese drei jungen Störche, die vorher den Eindruck machten, als hätten sie die größten Anstrengungen bei ihren kleinen niedrigen Flügen, daß diese Tiere plötzlich ausdauernde Flieger geworden, und schon am 31. Juli von anderen vorüberziehenden Störchen zur Mitreise verführt worden seien.

Auf die an die Meinen gerichtete Frage, warum denn der hohe Flug der Störche, von dem sie doch zuerst abends wieder in den Stall zurückkehrten, keine Veranlassung gegeben habe sie vorsichtig eingeschlossen zu halten, erhielt ich die Antwort: "Hättest du gesehen, wie schön unsere Störche geflogen sind, wie sie sich in den letzten Tagen in der Luft wiegend höher und höher erhoben, du hättest es selbst nicht übers Herz gebracht, sie eingesperrt zu halten und an diesen herrlichen Bewegungen zu hindern, nach denen ihr bittender Blick aus ihren sanften schwarzen Augen verlangte."

Wir aber wollen am Storch, mit dem unsere Einleitung begann, und der so oft als Beispiel uns diente, später noch eine Rechnung durchführen, welche zeigen wird, in welcher natürlichen Weise sich die Hebewirkungen beim Fliegen entwickeln, wenn diejenigen Momente Berücksichtigung finden. welche hier als die Flugfähigkeit fördernd aufgestellt sind, wenn also die durch Messungen ermittelte Flügelwölbung in Rechnung gezogen wird, und diejenigen Luftwiderstandswerte zur Anwendung gelangen, welche solche gewölbten Flügelflächen bei ihrer Bewegung durch die Luft wirklich erfahren.

Durch die Kenntnis der Luftwiderstandserscheinungen an flügelförmigen Körpern sind wir imstande, wenigstens einigermaßen den Zusammenhang zwischen den Ursachen und Wirkungen beim Vogelfluge zu erklären. Wir können aus den Formen und Bewegungen der Vogelflügel diejenigen Kräfte konstruieren, welche tatsächlich imstande sind, den Vogel mit den Bewegungen, die er nach unseren Wahrnehmungen ausführt, in der Luft zu tragen und seine Fluggeschwindigkeit aufrecht zu erhalten. Wir haben gesehen, wie den Vögeln die längliche, zugespitzte oder in Schwungfedern gegliederte Form ihrer Flügel hierbei zustatten kommt. Wir haben ferner gesehen, daß das Auf- und Niederschlagen der Flügel, welches eigentlich in einer Pendelbewegung besteht, die von Drehbewegungen um die Längsachse begleitet ist, daß diese Flügelbewegung, sobald es sich nebenbei um ein schnelles Vorwärtsfliegen handelt, die größere Tragewirkung der Flugfläche nicht etwa auf die mit starkem Ausschlag versehenen Flügelspitzen verlegt, sondern daß gerade den breiteren, nahe dem Körper gelegenen Flügelteilen, welche wenig auf und nieder gehen, der Hauptanteil zum Tragen des Vogels zufällt.

Die Natur entfaltet gerade in diesen Bewegungsformen des Vogelflügels eine Harmonie der Kräftewirkungen, welche uns so mit Bewunderung erfüllen muß, daß es uns nur nutzlos erscheinen kann, wenn auf anderen Wegen versucht wird zu erreichen, was die Natur auf ihrem Wege so schön und einfach erzielt.