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In ähnlicher Form erschienen in: Fliegerrevue, 05/2006, S. 70 - 73.
Wir danken dem Autor für die Genehmigung zur Veröffentlichung auf unserer Site.

Mit gestutzten Flügeln:
Drachenfliegen unterm DDR-Regime

von Claus Gerhard

15. April 1973: Der Amerikaner Mike Harker segelt mit einem Drachen publikumswirksam von der 3000 Meter hohen Zugspitze. Er entfacht damit in ganz Europa ein Flugfieber, das auch vor der DDR nicht halt macht, denn durch das Westfernsehen sind die Menschen in Ostdeutschland gut informiert. Etwa zur selben Zeit dringen Drachenflug-Berichte aus der Sowjetunion ins Land: Gibt es doch in den sozialistischen Nachbarstaaten bereits einige Tausend Anhänger der neuen Luftsportart - Tendenz steigend.

DDR baut Drachen

Im Oktober 1974 sieht sich der Aeroclub der DDR daher genötigt, "das Problem Laufgleiter" auf einer Tagung des Technischen Beirats zu erörtern. Die Fliegerschule in Schönhagen soll mit polnischen Material und Know-how einen Drachen herstellen, der als "Delta-Gleiter 75" der erste mustergeprüfte Hängegleiter der DDR wird - leider auch der einzige, denn trotz eines positiven Prüfergebnisses im Frühjahr 1976 findet die praktische Flugerprobung damit nie statt: 1977 stellt man - auf Grund einer zentralen Anweisung - die Arbeiten an dem Projekt wieder ein.

Polen und UdSSR geben Starthilfe

Drei besonders flughungrige junge Männer wollen den Ausgang des Verfahrens nicht abwarten und reisen im Sommer 1975 zur ersten polnischen Drachenflugmeisterschaft nach Krakau, um sich genaue Informationen über den Bau von Drachen zu besorgen. Sofort fangen sie an zu basteln. Stefan Nitsch aus Magdeburg, der jahrelang Lilienthal-Gleiter nachgebaut hatte, stellt seinen ersten Drachen aus Weidenruten her. Einige andere, die Beziehungen zur Flugzeugwerft in Dresden haben, organisieren Alurohre aus russischer Produktion und Segelmaterial vom Fallschirmkombinat in Seifhennersdorf. 1977 veröffentlicht die sowjetische Zeitschrift "Modelism Konstruktor" in ihrer Aprilausgabe eine detaillierte Drachen-Bauanleitung. Auch der "Sputnik" druckt im selben Jahr Drachenflugberichte aus der UdSSR. Die Folgen lassen nicht lange auf sich warten: Unter den etwa 60.000 Segelflug-Interessierten, von denen nur gut ein Zehntel zum Fliegen in der Gesellschaft für Sport und Technik (GST) zugelassen ist, wollen viele das Abenteuer des neuen Flugsports ausprobieren. Weil aber nirgends Schulungsmöglichkeiten bestehen, kommt was kommen muss: Am 28. Juli 1979 hat die DDR ihren ersten schweren Drachenunfall: Bei einem unsachgemäß zusammengebauten Gerät reißen im Flug die Segelnähte am Kielrohr, der Drachen verliert die Steuerfähigkeit und stürzt ab, wobei der Pilot schwer verletzt wird.

Schon vorher sind beim Ministerium für das Verkehrswesen mehrere Flugerlaubnis-Anträge eingegangen, so dass die Behörde nach dem Unfall 28 Personen ermitteln kann, die Drachen besitzen und damit geflogen sind. Sie alle werden jetzt "belehrt", das heißt, sie müssen versprechen, den Sport zukünftig zu unterlassen. Wegen der unklaren Rechtslage - das Drachenfliegen kommt im Luftfahrtgesetz nicht vor - will die Regierung handeln, denn den Verantwortlichen ist klar, dass der Drachenflugsport ein erhebliches Sicherheitsrisiko für die DDR bedeutet. Dabei geht es weniger um die Unfallgefahren als um das Fluchtpotenzial, liegt doch die Möglichkeit der Motorisierung dieser zerlegbaren und schnell aufzubauenden Fluggeräte auf der Hand.

Verkehrsminister will Drachen erlauben

In Gesprächen auf höchster Ebene zwischen Armeegeneral Hoffmann, Stasi-Minister Mielke, Innenminister Dickel, dem Chef der Luftstreitkräfte Generaloberst Reinhold und dem Vorsitzenden der GST Generalleutnant Teller wird Ende 1979 die Situation ausführlich beleuchtet und auf eine politische Entscheidung gedrängt. Vor allem die GST-Führung ist gegen eine Zulassung des Drachenfliegens: Der Kreis der Interessenten decke sich nicht mit den jugendlichen Altersgruppen der vormilitärischen Ausbildung. Oft seien es "Personen, die aus kaderpolitischen Gründen oder wegen Verfehlungen nicht mehr zum Flugsport zugelassen sind." Drachenfliegen werde meist aus Sensationsgründen betrieben und bringe "neue Sicherheitsprobleme", zusätzliche Ausrüstungen und flugsportliche Einrichtungen müssten geschaffen werden. Das alles könne "die Funktionäre der GST von der Erfüllung ihrer Aufgaben ablenken".

Noch zwei Jahre zuvor hatten der stellvertretende Verkehrsminister Dr. Henkes und der Präsident des Aeroclubs Schubert unter dem Eindruck der öffentlichen Meinung ein generelles Drachenflug-Verbot abgelehnt und die Einführung mit Auflagen vorgesehen. Danach sollte der Sport im Rahmen der GST und nur auf speziell dafür zugelassenen Geländen erlaubt sein, allerdings nicht in Regionen mit weniger als 25 km Abstand zur Staatsgrenze. Alle Fluggeräte wären registriert, geprüft und unter Verschluss genommen worden. Selbst Generaloberst Keßler von der Nationalen Volksarmee (NVA) glaubt damals, dass man bei dem wachsenden Bedürfnis nach Drachenfliegen "die Erfordernisse der staatlichen Sicherheit und der Landesverteidigung" mit Hilfe bestehender Rechtsvorschriften gewährleisten könne.

Honecker entscheidet dagegen

Doch das Verkehrsministerium und der Aeroclub bleiben mit ihrem Vorschlag allein. Am 18. Januar 1980 erhält der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker umfangreiche ablehnende Stellungnahmen von GST, Volksarmee und Innenministerium zur Entscheidung, die er am Folgetag handschriftlich bestätigt: "Einverstanden. EH". Man geht jetzt davon aus, dass bei einem Verbot die Anzahl der illegalen Drachenflieger, die "im sozialistischen Ausland trainieren, geringer bleiben und damit leichter zu erfassen sein" wird als bei einer Zulassung dieser Sportart. In der Öffentlichkeit soll mit der Überfüllung des DDR-Luft­raumes und mit der Unfallgefahr argumentiert werden, da es sich beim Drachenfliegen um "keine wissenschaftlich betriebene Sportart zur Heranbildung von Fliegern" handelt, wie der Chef der GST forsch behauptet. Während einer Wehrorganisationstagung der sozialistischen Länder werden die Vertreter Polens, Ungarns und der CSSR gebeten, zukünftig alle für den Drachenflug werbenden Veröffentlichungen zu unterlassen und DDR-Bürgern die Teilnahme an ihren Meisterschaften zu versagen. Gegen das Votum der polnischen Delegation sollen die sozialistischen Bruderländer sogar ihren Einfluss in der FAI geltend machen, "diese unwissenschaftlich betriebene Sportart einzustellen." Die Zoll- und Grenzorgane erhalten Befehl, die Aus- und Einfuhr von Flugdrachen zu kontrollieren und diese bei DDR-Bürgern sofort zu beschlagnahmen. Im Vorgriff auf die Änderung des § 28 Luftfahrtgesetz erscheint am 25. August 1980 die Anordnung des Verkehrsministeriums, welche "den Besitz, die Herstellung, den Vertrieb und die Benutzung" von Hängegleitern unter Strafe stellt - ein weltweit einmaliges Verbot!

GST-Chef geht in die Luft

Trotzdem fahren viele Flugbegeisterte weiterhin ins Ausland zum Drachenfliegen. Ihre selbst gebastelten Fluggeräte tarnen sie entweder als Campingausrüstung oder deponieren sie im Gastland, um bei Besuchen damit fliegen zu können. Da die Sicherheitsbehörden der sozialistischen Länder aber zusammenarbeiten, gehen der "Stasi" viele DDR-Drachenflieger an der Grenze ins Netz. Ihre Trabbis werden oft stundenlang gefilzt. In den grenznahen Mittelgebirgsregionen hat die Firma "Horch und Guck" ihre Späher sogar am Himmel: GST-Flieger melden regelmäßig aus der Luft, welchen Berg die Drachenflieger gerade nutzen.

Einer der ersten Piloten, der auf unangenehme Weise Bekanntschaft mit dem Regime macht, ist Peter Eckstein aus Ballenstedt. Seit 1976 gleitet der ehemalige Segelflieger und Interflug-Pilot wiederholt mit dem Drachen von einem Berg im Harz. Am 10. Juli 1977 untersagt ihm die örtliche Volkspolizei das weitere Fliegen, obwohl er von der Luftfahrtinspektion Berlin und vom Sportbund die Auskunft erhalten hatte, dass dem Drachenfliegen in der DDR mangels gesetzlicher Grundlagen nichts im Wege stünde. Ein Jahr später sorgt Eckstein erneut für Wirbel, denn er nimmt an einem internationalen Drachenflugwettbewerb im tschechischen Eger teil und wird 5. in der Gesamtwertung. Wegen dieses sportlichen Erfolges geht ein offizielles Glückwunschschreiben an den Vorsitzenden der GST, was diesen verständlicherweise in Rage versetzt. Eckstein wird von Generalleutnant Teller vorgeladen, zusammengebrüllt und mit Konsequenzen bedroht, falls er das Drachenfliegen nicht endgültig einstellt. Er lässt sich dadurch aber nicht beeindrucken und fliegt weiter. Ein halbes Jahr lang behält man seinen Personalausweis, um ihn am Überschreiten der Grenzen zu hindern, danach kann er - von der "Stasi" argwöhnisch beobachtet - wieder in Tschechien fliegen.

"Stasi" als Flugbegleiter

Dieter Sommermeier aus Chemnitz erfährt ähnliche Schikanen. Als ambitionierter Nachwuchsse­gel­flieger droht ihm wegen seiner Westverwandtschaft 1980 das Flugverbot, deshalb weicht er aufs Drachenfliegen aus. Auch er muss seinen Ausweis vorübergehend abgeben. In Leipzig gründet sich zu dieser Zeit eine zehnköpfige "Interessengemeinschaft Drachenflug", die Kontakte zu polnischen und sowjetischen Piloten pflegt. Beim Verkehrsministerium wirbt sie geschickt für die Flugerlaubnis, indem sie den Einsatz als Wehrsport vorschlägt und an das sportliche Image des Landes appelliert. Fast alle Mitglieder sind in der Partei. Sie wollen keine "unpolitischen Nurflieger" sein, sondern bei ihrem Hobby "den konkreten gesellschaftlichen Bedingungen ... Rechnung tragen". Leider müssen die Genossen, unter ihnen eine Frau, nach der Anordnung vom 25. August ihre Gruppe wieder auflösen. Trotzdem versuchen sie über den Wortführer Klaus Engländer, wenigstens eine Ausnahmegenehmigung für ein straff organisiertes Drachenfliegen innerhalb der GST zu errei­chen. Am 15. Mai 1981 kommt "nach Konsultationen mit den zuständigen staatlichen Organen" das endgültige Aus.

Abgewiesen werden nun jahrelang alle Eingaben zum Drachenfliegen, stets verbunden mit dem Hinweis auf die Gesetzeslage. Dies betrifft auch einen jugoslawischen Staatsbürger, der 1988 in Bad Blankenburg mit einer Sondergenehmigung fliegen möchte, weil er dort vorübergehend arbeitet. Ohne Antwort bleibt dagegen der Brief eines Piloten aus der "selbständigen politischen Einheit Westberlin", worin - reichlich naiv - nach einem Drachenstartplatz im Umland gefragt wird. Stattdessen geht der Fall vom Verkehrsminister an die "Stasi".

Mittlerweile treffen sich Teile der DDR-Fliegerszene regelmäßig im tschechischen Rana, was der "Stasi" natürlich nicht verborgen bleibt. Auf ihr Betreiben hin beschlagnahmt die örtliche Miliz im Sommer 1985 bei einer Razzia alle ostdeutschen Drachen. Sie werden mit einem LKW abgeholt und zur Fliegerschule nach Schönhagen gebracht, wo man sie einlagert. Erst nach der Wende können sich Sommermeier und viele seiner Fliegerkameraden ihre vom Transport beschädigten und inzwi­schen veralteten Drachen in Schönhagen abholen. Seinen neuen Drachen, einen Nachbau des engli­schen Magic III, büßt Sommermeier kurze Zeit später ebenfalls in Rana ein. Angeblich hat er beim Hang­segeln die Kontrollzone des nahe gelegenen russischen Militärflugplatzes verletzt, was sich später als eine Verwechslung herausstellt. Trotzdem erhält er sein Fluggerät von den Tschechen erst nach vielen Monaten zurück, und das nur mit einem äußerst ungewöhnlichen Schreiben von Oberst Köllner, dem neuen Präsidenten des Aeroclubs, der ihn als DDR-Drachenflieger ausweist.

Fluchtversuch im Drachen

1986 kommt es zum einzig bekannten Fluchtversuch mit einem Hängegleiter. Zwei 27 und 30 Jahre alte Männer aus Ost-Berlin wollen in der Nacht vom 10. zum 11. November von einem Hochhausdach an der Leipziger Straße nach West-Berlin segeln. Zuvor haben sie ihre selbst gebauten Fluggeräte heimlich an den Hügeln des Oderbruchs getestet. Die Entfernung über die Mauer beträgt bis zum vorgesehenen Landeplatz neben dem Axel-Springer-Haus in Kreuzberg 250 Meter. Das 25-stöckige Haus an der Grenze ist gut 60 Meter hoch. Demnach würde ein Gleitwinkel von 1 zu 4 für den erfolgreichen Flug ausreichen. Aber der erste Drachenflieger schafft es nicht über die Mauer und landet auf einem Schulhof vor der Grenze. Der zweite lässt daraufhin seinen Drachen im Hochhaus zurück, packt den verletzten Freund ins Auto und will mit ihm nach Tschechien fliehen. Doch die "Stasi" ist schneller und erwartet die beiden Trabbi-Fahrer an der Grenze, wo sie festgenommen werden.

DDR-Kosmonaut will Drachenflug

Aufgrund der sowjetischen Perestroika wandeln sich nun die Verhältnisse in der DDR schrittweise: Nachfolger des inzwischen verstorbenen GST-Chefs Teller ist Vizeadmiral Kutzschebauch geworden. Sein Stellvertreter, Oberst Köllner, der als Kosmonaut auch die Flugausbildung in der GST leitet, steht dem Drachenfliegen aufgeschlossen gegenüber. Im Mai 1988 sucht er auf der ILA in Hannover den Kontakt zum westdeutschen Aeroclub. Danach gehen die Verantwortlichen sogar auf Anregungen aus dem Pilotenkreis ein und versprechen eine "erneute Prüfung und Beratung" des Problems Drachenfliegen.

Mittlerweile haben einige Piloten ihre Fluggeräte motorisiert. Peter Eckstein fliegt sein erstes selbst gebautes Trike mit einem Trabbi-Motor heimlich in Rana ein. Jürgen Ackermann und Albert Bienert benutzen einen Gleitschirm, den sie - ebenfalls in Rana - mit dem Antrieb eines MZ-Motorrads in die Luft bringen. In Dresden bemüht sich seit geraumer Zeit ein TU-Professor um die Erlaubnis zum Bau eines "Motordrachens für Agraraufgaben". Jetzt billigen die Behörden seine wissenschaftliche Fluggruppe und sehen darin eine bescheidene Möglichkeit, den Luftfahrtgerätebau "in der DDR zu halten und weiterzuentwickeln".

Ausgerechnet am Tag der Abdankung Erich Honeckers, am 18. Oktober 1989, beruft der Zentralvorstand der GST in Neuenhagen eine Anhörung zum Thema Drachenflugsport ein, zu der alle dem Regime bekannten Piloten eingeladen sind. Nachdem vor allem Siggi Stolle aus Eichwalde die Verantwortli­chen mit seinen Anträgen auf Flugerlaubnis jahrelang genervt hat, soll der Sport nun endlich legalisiert werden. Die Drachenflieger wünschen sich ein öffentliches Anfliegen zum 3. März 1990 in Laucha, doch die Behörden bremsen. Zuvor seien noch Untersuchungen und verän­derte gesetzliche Bestimmungen nötig. Dann kommt überraschend die Wende, und das Anfliegen findet tatsächlich am 3. März in Laucha statt, nunmehr mit Beteiligung westdeutscher Piloten und unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit.

Von Claus Gerhardt ist auch erschienen: "Fliegen, wo Fontane wanderte" - das Buch ist auch im Museumsshop erhältlich (10,50 EUR).